Die Arktis darf nicht sterben!

 Im hohen Norden schmilzt das Eis

Bedingt durch die Pandemie kehrte Meeresbiologe Dr. Thomas Henningsen erstmals im September 2022 nach drei Jahren Pause wieder zurück in die Arktis. Entsetzt über das rasche Tempo, in dem sich die Region verändert, schreibt uns der Greenpeace-Experte und Geschäftsführer von ORCA – Organization for Rapid Climate Action: „Das Eis schmilzt in der Arktis an allen Ecken, überall fließen Wasserfälle von den Felsen, überall sehen wir sterbende Gletscher und das richtig dicke Packeis ist auf riesigen Flächen fast komplett verschwunden“. Er drängt zu raschem Handeln.

Ich bin nun erst nach drei Jahren – Corona-bedingt – in die Arktis zurückgekehrt und selbst ich habe diesen schnellen Wandel so nicht erwartet: Es schmilzt hier oben in der Arktis an allen Ecken. Überall fließen Wasserfälle von den Felsen, überall sehe ich sterbende Gletscher und das richtig dicke Packeis ist auf riesigen Flächen fast komplett verschwunden.

Vor drei Tagen brachen wir auf, das arktische Packeis zu erreichen, und mussten bis auf 904 km an den Nordpol heranfahren, bis wir es endlich fanden. Aber Packeis, wie es „normal“ für das Nordpolarmeer ist, war dort nicht: Nur noch lose Schollen und weit weg davon, dickes Warum geschieht nur so verdammt wenig, trotz dieser alles bedrohenden Entwicklung?

Als Max Hoffmann und Daniela Mett mich vor einigen Wochen gebeten haben, doch einen Beitrag zum Klimawandel für das Jubiläums- buch zu schreiben, dachte ich noch … „komisch, dass sie dies ins Jubiläumsbuch haben möchten und dann noch mich fragen – aber: klar, mache ich gerne“. Doch seitdem ist viel passiert und ich habe es immer weiter vor mir her geschoben, denn gerade weil so viel passiert ist, in diesem be- sonders katastrophalen Sommer mit Hitzewellen, extremer Dürre und riesigen Waldbränden.

Und nun sitze ich – in der Arktis auf Spitzbergen – auf einer felsigen Anhöhe, die noch vor weni- gen Jahren von dreißig Meter dickem tausende Jahre altem Eis bedeckt war, auf einer gerade „gestorbenen“ Gletscherzunge auf Spitzbergen – und denke über die Zukunft unseres Planeten, die der kommenden Generation und immer wie- der auch besonders die meiner eigenen Kinder nach, und beginne den Artikel zu schreiben.

Mein Herz hüpft seit unserer Ankunft auf Spitz- bergen vor einigen Tagen regelrecht vor Glück, diese unbeschreibliche Schönheit der arktischen Natur, die fantastische Vielfalt nicht nur zu sehen,mehrjähriges Packeis zu sein. Ein Eisbärweibchen stand auf den weichen Schollen und der König
– oder hier – die Königin der Arktis wirkte wie eine verzweifelte Herrscherin ohne Reich. Hier in der Arktis – im September 2022 ist es mehr als deutlich: Die Klimakrise ist da!

„Global Warming“ und der vom Menschen ge- machte Klimawandel sind die größten Gefahren, nach einhelliger Meinung seriöser Wissen- schaftler, die größte Gefahr in diesem Jahr- hundert und sogar die größte vom Menschen verursachte Bedrohung der Lebensgrund- lagen, die jemals unseren Planeten betrafen.

 

Sie kommt mit immer schnellerem Tempo und stärkeren Konsequenzen auf uns zu. Trotzdem scheinen nur sehr wenige zu reagieren oder zu einem wirksamen Handeln bereit zu sein: Ich bin wütend auf die feigen Politikerinnen und Politiker, die schon lange und auch weiter-
hin fast geschlossen versagen, und genauso auf einen Großteil der Industrie, die weiter im großen Maßstab auf Massenverbrauch, Weg- werfprodukte und Verpackungswahn, alles zur Profitmaximierung setzen. Sie arbeiten sogar mit Verbraucherdesinformation und -täuschung. Viele Verbraucher selbst stehen der dringend benötigten Energie-, Mobilitäts- und Agrarwende weiterhin mit Skepsis gegenüber – nutzen sogar weiterhin Kohlestrom, SUVs und billige Fleischprodukte aus der Massentierhaltung. Sie denken wohl: „Ach, so schlimm wird es schon nicht werden.“

Tatsächlich geht es bei der globalen Erwärmung und dem damit verbundenen Klimawandel nur um wenige Grad Celsius, aber die haben eben verheerende Folgen. Stellen wir uns unseren eigenen Körper vor, der sich um 37 °C wohl- fühlt, bei 38 °C beginnt das Unwohlsein, bei 39 °C fühlen wir uns in der Regel sehr krank und schlapp. Ab einer Körpertemperatur von über 40 °C wird es gefährlich, bis bei 42 °C in der Regel der Körper kollabiert und der Mensch stirbt. Sehr ähnlich verläuft die „Fieberkurve der Erde“: Ein Grad mehr ist wohl noch zu verkraften, wenn auch nicht gut, aber bei 2 und 3 Grad globaler Erwärmung wird es kritisch, beginnen die Kipppunkte der globalen Systeme zu wirken. Dazu zählen das Absterben der großen Waldge- biete und auch der Korallen, Tauen der Perma- frostböden, Abschwächung der großen globalen Meeresströmungen, Abschmelzen der Gletscher- gebiete und sogar der Polkappen. Damit wird die globale Erwärmung massiv weiter nach oben getrieben.

 

Kippen diese global so bedeutenden Systeme, hat dies sich selbst verstärkende Effekte zur Folge und damit einen wahren Teufelskreislauf, der nicht mehr zu stoppen sein könnte, was bei der derzeitigen Geschwindigkeit der Erwär- mung, schon in wenigen Jahrzehnten erreicht werden könnte. Damit ist dann ein Leben auf dieser Erde, wie wir es kennen, durch die ka- tastrophalen Auswirkungen dieser Erwärmung nicht mehr vorstellbar. Also gilt, und so haben sich eigentlich auch nach immer eindringlicheren Warnungen der Wissenschaft fast alle Staa- ten geeinigt, die globale Erwärmung soll 1,5 °C plus nicht überschreiten.

Einige dieser Kipppunkte sind aber bereits am Schwanken oder haben möglicherweise ihren Kipppunkt bereits erreicht. Das gilt für den größten und artenreichsten Regenwald der Erde in Amazonien. Während seiner Regierungszeit trieb Präsident Jair Bolsonaro dessen Abhol- zung ohne Skrupel voran. Bis zu fünf Fußballfel- der Waldfläche pro Minute wurden zerstört und noch immer werden Bäume abgeholzt oder ab- gebrannt. Das ganze System Amazonien kann kippen mit weitreichenden Folgen für die Arten- vielfalt, den Lebensraum vieler indigener Men- schen und auch für das weltweite Klima. Denn dieser riesige Tropenwald beinhaltet rund 20 Prozent der globalen Trinkwassermengen, verdunstet unvorstellbare Mengen an Wasser und sorgt für den Regen, der unter anderem große Teile Südamerikas bewässert. Auch das System der nordischen Wälder schwankt. Die Brände in Russland sind zusätzlich dramatisch, weil die enormen Mengen Ruß durch die vornehm- lichen Windrichtungen in die Arktis getrieben werden und sich dort als „black carbon“ oder schwarzer Kohlenstoff auf die weißen Schnee- und Eisflächen legen. Genau hier tritt dann der sogenannte Albedo Rückkopplungs-Effekt ein: dunkle Flächen absorbieren die Sonnenenergie und es wird noch wärmer und dann werden sogar zunehmend die Permafrostböden auftau- en (ein weiterer Kipppunkt), verbunden mit dem Freisetzen von Methan, ein weiteres massives Treibhausgas.

Die Arktis ist der womöglich gefährdetste aller Kipppunkte. Sie ist die Region auf der Erde, die den höchsten Temperaturanstieg zu verzeichnen hat und schmilzt so rasch, wie wir uns das kaum vorstellen können. Das arktische Meereis bricht regelrecht zusammen – hundert Jahre früher, als uns die Computermodelle her berechnet haben. Das nordische Meereis ist seit nun wenigen Jahren auf eine Fläche von unter 4 Mio. km2 geschrumpft – von ehemals rund 8 Mio. km2 arktischem Sommermeereis. Also auf weniger als die Hälfte. Die Festland- eismassen und Gletscher in Alaska, Kanada, Russland, Island, und Norwegen und besonders auf Grönland sind ebenso massiv betroffen.

 

Die Schmelzwassermenge 2019 ist allein in Grön- land auf über 540 Milliarden Tonnen, also auf unvorstellbare 1 Mio. Tonnen pro Minute hoch- getrieben – genug, um ganz Deutschland 1,5 m unter Wasser zu setzen. Die zwanzig wärmsten Jahre auf der Erde – seit der Wetteraufzeichnung vor über hundert Jahren – waren alle in den letzten zwanzig Jahren und die wärmsten sieben waren alle in den letzten sieben Jahren. 2022 gehört natürlich dazu. Gerade der Sommer 2022 auf der Nord- halbkugel war in vielen Ländern und ganzen Regionen wie Europa, der wärmste je gemesse- ne Sommer mit Rekorddürren, Hitzewellen und Waldbränden sowie massiven und Tod bringen- den Starkregenereignissen. Europa zählt inzwi- schen wie die Arktis zu den am schnellsten und weitreichendsten vom Klimawandel betroffenen Regionen der Erde.

Überall gibt es Lösungskonzepte und vieles liegt einfach auch auf der Hand, wie große Wald- und Meeresschutzgebiete zu schaffen und auf ein ökologischeres Wirtschaftssystem umzuschwenken, verbunden mit einer Fischerei-, Agrar-, Energie- und Mobilitätswende.

Natürlich erwarten uns damit gewaltige Anstrengungen und wer behauptet, wir bekom- men das ohne jegliche Veränderung hin, der lügt sich selbst und anderen etwas vor. Es wird Einschränkungen geben, aber es muss nicht weniger Lebensqualität bedeuten, sondern das Gegenteil wird der Fall sein, wenn wir erst ein- mal realisieren, was wir alles erhalten können. Außerdem gibt es gar keine Alternative, denn weiter fast nichts zu tun, hätte endlose Kata- strophen und menschliches Leid zur Folge.
Wenige dringende Schritte sind jetzt erforderlich, mit denen wir die größte Umwelt- und damit Lebenskatastrophe aller Zeiten noch verhindern können:

  • Die Energiewende endlich umsetzen und so- fortiges Ende mit der Kohleverbrennung. Da- bei haben wir längst Alternativen und wissen wie regenerativ geht! Die Sonne könnte den gesamten Energiebedarf der Welt viermal ab- decken. Technisch und finanziell heute schon absolut machbar.
  • Die Meere und Wälder müssen konsequent geschützt werden und wir müssen begrünen, was immer geht: freie Flächen, Gebäude, Dächer … Mit der ganz kostenlosen Photosyn- these der Pflanzen können wir den CO2-Anteil der Atmosphäre wieder senken.
  • Weiterhin müssen wir uns vernetzen und Allianzen bilden. Es gibt viele gute Organisa- tionen, nicht nur Greenpeace und ORCA, für die ich arbeite, die ihr Wissen bündeln und gemeinsam wirklich fortschrittliche Konzepte entwickeln könnten. Die müssen unterstützt werden, wie auch die Kids von Fridays for Future und andere junge engagierte Klimaak- tivistinnen und -aktivisten, die ein Hoffnungs- schimmer sind und hoffentlich immer stärker und selbstbewusster die Initiative in ihre Hän- de nehmen. Denn sie kämpfen für ihre eigene Zukunft und haben nicht nur jedes Recht dazu, sondern eben auch alle Unterstützung verdient – es geht ja um ihre Zukunft.
  • Und schließlich kann jede und jeder etwas tun. Wir wissen doch, wo die Probleme im eige- nen Haushalt liegen: Essen, Energie, Mobilität und Konsum. Und bei allem lässt sich etwas ändern. Ob wir nun weniger Fleisch essen, auf Wegwerfprodukte konsequenter verzichten, auf wirklich ökologischen Strom umstellen, nicht mehr oder nur in Ausnahmen fliegen, den SUV abschaffen, statt Auto mehr Rad oder E-Bike fahren, lokale Bioprodukte nutzen. Und vor allem muss man seine eigene „Not In My Backyard“ NIMB-Haltung überwinden. Das heißt, abwarten oder sogar mit dem Finger auf andere zeigen und sagen: „warum ich, sollen die doch anfangen.“

Eine Schlüsselrolle fällt dabei Firmen und deren Besitzern und Verantwortlichen zu. Es gilt hier viel konsequenter Verantwortung zu überneh- men, Klimaschutz vorleben, Lösungen imple- mentieren und auch selber Allianzen bilden. Die Firmen sind es, die jetzt wirklich etwas bewegen und unternehmen könnten, gerade weil die Politik so schwach und träge ist. Die Firmen, die stark verantwortlich sind für den jetzigen Zustand – wie die Öl-, Auto-, Bau-, Landwirt- schaft, Lebensmittel- aber auch Bau-, Metall- und Zementindustrie. Sie muss die bisherigen Geschäftsmodelle endlich umdenken, neu und wirklich nachhaltig aufstellen. Aber es betrifft eben auch Firmen, die bereit sind, ein Zeichen zu setzen und ihren eigenen Fußabdruck mas- siv zu senken und damit ein Leuchtturm sein können, anderem den Weg aufzuzeigen – durch einfache Maßnahmen wie Energieeffizienz, Ein- satz von gutem Ökostrom, Vermeidung von Ver- packungen, Einsatz von Recycling, Begrünung ihrer Standorte usw., zumal sie damit auch noch Kosten sparen werden und für Konsumenten und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu- nehmend attraktiver werden.

Dazu brauchen wir Führungspersönlichkeiten, die anpacken und die vorhandenen Lösungs- konzepte endlich anwenden. Ein einzelner Mensch kann die Welt wohl nicht retten – aber er kann andere mitnehmen und gemeinsam ist es dann absolut möglich. Wir alle sollten aber auch endlich damit anfangen.

So sitze ich auf dem eisfreien Felsen in der Arktis und verspüre eine zunehmende, innere, total positive Unruhe, lächle die wunderbare Schön- heit um mich herum an, die unser Planet immer noch ausstrahlt, und denke, dass es sich doch lohnt, für seinen weiteren Erhalt zu kämpfen.

Also stehe ich auf … und verspüre „Hope in Action“.

Autor: Dr. Thomas Henningsen

Autor: Dr. Thomas Henningsen

Meeresbiologe und war Kampagnen- und Programmleiter bei Greenpeace

Zu den vielen internationalen Kampagnen, die er entwickelte, zählt auch die globale Klimaschutz- kampagne. Er ist Verfasser einer Vielzahl wissen- schaftlicher, populärwissenschaftlicher und um- weltpolitischer Aufsätze, Bücher, Dokumentationen und als Redner und Diskussionsteilnehmer Gast zahlreicher Veranstaltungen. Als Mitbegründer von ORCA – Organisation for Rapid Climate Action wirkt er daran mit, für Institutionen und Unterneh- men im Umwelt- und Klimabereich „Machbares (endlich) zu machen“.

Fotos / Bildnachweise

  • Weltkarte: Potentielle Kippelemente in der Kryosphäre (blau), der Biosphäre (grün) und der Atmosphäre (orange), die durch die globale Erwärmung in diesem Jahrhundert ausgelöst werden könnten. Quelle: Science.org, 9.09.2022 Vol 377, Issue 6611.
  • Greenpeace Steve Morgan GP01VZW 
  • Greenpeace Dean Miller GP0STQMKE
  • Greenpeace Julia Petrenko GP1SU5IX 
  • Greenpeace Ian Willms GP0STQ2GB
  • Thies Rätzke
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